von Werner Mergner – ehemaliger Redaktionsdirektor der Frankenpost Verlag GmbH Hof
„Wir haben sie weggeräumt!“
Diese Erinnerungen sind wie glitzernde Sterne am klaren Nachthimmel.
25 Jahre ist es her, dass die unmenschliche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland gefallen ist.
Ein Vierteljahrhundert – und doch scheint es dem Schreiber dieser Erinnerungen, als wäre es gestern gewesen. Wir erinnern uns an mutige Männer und Frauen aus der DDR, die sich nicht mehr von einer lebensfremden und machtbesessenen Clique verbohrter Betonköpfe einsperren lassen wollten, und an hilfsbereite Menschen in Oberfranken, die ihre Landsleute mit offenen Armen und weiten Herzen aufgenommen haben.
Angedeutet, dass dem zweiten Staat auf deutschem Boden schwere Zeiten bevorstehen, hatte es sich schon im Frühjahr 1989. Doch die Zeichen des Aufbegehrens des DDR-Volkes, vor allem der Jungen, wagten im Westen nur wenige Beobachter dahingehend zu deuten, dass es zu Ende gehen könnte mit dem Staat der Einheits-Sozialisten.
Doch dann kam der Oktober.
Auf dem Hofer Hauptbahnhof fuhren in den ersten Tagen dieses Monats die Züge mit den Flüchtlingen aus Prag ein, vollgestopft mit Tausenden von euphorischen Menschen, die gleichzeitig lachten und weinten, weil sie endlich die Luft der Freiheit atmen konnten. Und diejenigen, die sie empfingen, die auf den Bahnsteigen des Hofer Hauptbahnhofes genauso lachten und weinten, darf man getrost als Helfer-Helden bezeichnen. Die Welle der Anteilnahme, der Liebe, der Hilfsbereitschaft, die den Menschen in den Zügen entgegen schlug, war unbeschreiblich.
War das der emotionale Höhepunkt einer Zeitenwende?
Nur wenige Tage später, am 7. Oktober, gingen 20.000 Menschen in Plauen auf die Straße, um für Reisefreiheit und gegen die Schikanen des kommunistischen Systems zu demonstrieren. Erfahren hatten die Bürger im Westen davon zunächst nichts – bis zum 9. Oktober. An diesem Tag meldete sich in der Hofer Frankenpost-Redaktion eine alte Dame aus Plauen. Sie erzählte den Journalisten von der Groß-Demo, von jungen Menschen, die sich auch nicht von Hunderten Volkspolizisten einschüchtern ließen, von einem Oberbürgermeister Dr. Martin, der sich hinter einem Schutzwall von bewaffneten Polizisten versteckte und von einem evangelischen Geistlichen namens Küttler, der sich furchtlos auf die Seite der Protestierer schlug und sie behutsam führte. Der Name der Frau war Anneliese Saupe, eine überzeugte Christin und Freiheitskämpferin, deren Name nie vergessen werden sollte.
In ihrer Unterwäsche schmuggelte sie einen ganzen Film mit sensationellen Aufnahmen von der Plauener Groß-Demo in den Westen. Und ganz Deutschland staunte über die Fotos, die die Frankenpost am Tag darauf veröffentlichte. Die Erkenntnis: Nicht nur Leipzig war eine „Heldenstadt“, auch Plauen darf sich mit diesem Titel schmücken.
Von da an ging es Schlag auf Schlag mit der neuen Frankenpost-Mitarbeiterin Anneliese Saupe. Jeden zweiten Tag kam die alte Dame zu uns in die Redaktion und brachte neue brisante Nachrichten aus der Nachbar- und Schwesterstadt. Die Leser in Oberfranken waren begeistert und die kommunistischen Funktionäre in Sachsen geiferten vor Wut.
Kurzum: Es waren journalistische Sternstunden.
Zu berichten, was sich alles an der oberfränkisch/sächsischen Nahtstelle zugetragen hat in diesen geschichtsträchtigen Tagen und Wochen im Herbst 1989 würde tausend Seiten füllen. Deshalb nur einige Schlaglichter in diesem Aufsatz anlässlich des 25. Jubiläums des Mauerfalls. Am 12. November, also kurz nachdem die Berliner Mauer überrannt worden war, klingelte früh am Morgen mein Telefon.
An der Strippe war der damalige bayerische Finanzminister Dr. Georg von Waldenfels. Ich müsse sofort an die Ullitz kommen, dorthin also, wo die Bundesstraße 173 Hof-Plauen seit Jahrzehnten durch einen mörderischen Todeszaun getrennt war.
Dort angekommen, traue ich meinen Augen nicht. DDR-Pioniere reißen den Todeszaun ein, ein Bagger planiert die kaum noch sichtbare Straßentrasse auf der DDR-Seite. Und auf westlicher Seite brechen Straßenarbeiter den Schlagbaum ab und planieren den bisherigen Grenzstreifen notdürftig mit Mineralbeton. Dutzende westdeutscher Bürger, darunter eben Minister von Waldenfels, der Landtagsabgeordnete
Klaus Kopka, der Trogener Bürgermeister Karl Becher, Frankenpost-Redakteur Gert Brendel, der Fotograf Arnold Hartmann und Frankenpost-Redaktionsleiter Werner Mergner, glauben zu träumen:
Ein scheinbar auf ewig und für alle Zeiten zementiertes Symbol der deutschen Teilung ist verschwunden, der Eiserne Vorhang ist, sechs Kilometer nördlich von Hof, durchschnitten.
Und jetzt jubeln die Menschen. Der Fahrer eines schweren Kranwagens ballt die Faust und schreit seine Erregung heraus: „Wir haben sie weggeräumt (die Grenze)!“ Mittlerweile sind aus den Dutzenden Zuschauern Hunderte, vielleicht sogar über Tausend geworden. Sie schreien, lachen, weinen als der Trabi durch den aufgeschnittenen
Zaun fährt. In ihm sitzen ein Mann und sein Sohn. Sie strecken triumphierend die Arme aus dem Fenster während sich die jubelnden Oberfranken am Straßenrand in die Arme fallen. Ein älterer Mann neben mir sagt leise zu sich selbst: „Lieber Gott, ich danke dir, dass ich das noch erleben darf.“ Dann geht es Schlag auf Schlag. Eine schier endlose Schlange von Trabis und Wartburgs rollt langsam in den Westen. Viele Menschen weinen oder beten. Und viele beschenken die Ankömmlinge mit Obst, Schokolade und Zigaretten: Es ist ein einziges Freudenfest. Neben mir schluchzt eine alte Frau. Sie heißt Erna Peetz und wohnt in Haidt. „Dort drüben in Wiedersberg bin ich geboren; einmal möchte ich da noch hin.“
Waldenfels, Mergner und Begleiter wollen das auch. Worte sind nicht nötig, ein Blick genügt und wir sechs Männer machen uns auf, die Grenze von West nach Ost zu überschreiten. Ohne angehalten zu werden, schlüpfen wir durch das Loch im Zaun und gehen die Straße entlang in Richtung Wiedersberg. Doch dann, nach 200 Metern, treten uns bewaffnete Grenzsoldaten der DDR entgegen und stoppen uns überaus unfreundlich. „Halt, was wollen Sie hier?“ Wir erklären, ganz unschuldig, dass wir unsere Brüder und Schwestern in der DDR besuchen wollen. „Wenn ihr zu uns kommt, können wir doch zu euch kommen“, sagt der Minister.
Ein Major der DDR-Streitkräfte hat mitgehört und kommt hinter einem Gebüsch hervor. „Das geht nicht“, sagt er streng, „die Grenze ist nur von Ost nach West geöffnet.“ Wir entschuldigen uns und bieten Zigaretten an. Das Eis ist gebrochen. Eine Viertelstunde Unterhaltung in freundlicher Atmosphäre über Gott und die Welt folgt.
Dann bittet uns der Offizier, den Rückweg anzutreten. Täten wir das nicht, komme er in Schwierigkeiten. Das verstehen wir und gehen zurück. Der Versuch immerhin, die Grenze von beiden Seiten her zu knacken, der ist geglückt!
Es dauert lange bis ich mich zurückgekämpft habe in die Frankenpost-Redaktion in der Hofer Poststraße. Aufgewühlt bis ins Innerste laufe ich zunächst durch die Altstadt. Dort stehen Trauben von DDRBürgern vor den Schaufenstern und trauen ihren Augen nicht. Ein Mann, der seine Frau umarmt, während er die Auslagen einer Metzgerei bewundert, sagt voller Wut: „Diese Schweine, diese elenden Schweine.“
Und ich weiß, ich habe das Ende der DDR gesehen.