Plauen im Herbst 1989

von Gerd Naumann – Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Vogtlandmuseum Plauen

„Revolution fernab der Metropolen“

Der außenpolitische Rahmen der kommenden Revolution
Als entscheidende Vorbedingung für das Gelingen der Revolution erweist sich die Aufkündigung der so genannten Breschnew-Doktrin durch den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow. Diese Doktrin – ein Relikt des Stalinismus, der bekanntlich Kontrolle höher schätzte als Vertrauen –, hatte den sozialistischen Ländern jahrzehntelang nur normative Souveränität zugebilligt. Das heißt, die UdSSR beanspruchte in allen relevanten Fragen das letzte Wort. Die DDR, wie auch die anderen sozialistischen Staaten, sind von nun an, für einen historischen Augenblick, nicht mehr nur auf dem Papier –, sondern auch faktisch souverän. Dieser komplexen Herausforderung zeigt sich die DDR-Führung – wie sich bald zeigen soll – nicht gewachsen.
Gorbatschow wird seine Glückwünsche zum 40. Gründungstag der DDR mit der Feststellung verbinden, wer zu spät komme, den bestrafe das Leben. Ein Satz, den die Bevölkerung sofort als Mahnung an die Adresse Honeckers interpretiert. Anders als 1953 und 1961 verbleiben im Herbst 1989 die in der DDR stationierten sowjetischen Panzer in den Kasernen.

Die gesellschaftliche Realität 1989 in der damaligen DDR
In seiner Wirklichkeit ist [das menschliche Wesen] das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, hatte Marx 1845 als These formuliert.
Wie stellte sich diese Realität 1989 in der damaligen DDR dar?
Man könnte seitenlang über diese Frage räsonieren. Gäbe es nicht vortreffliche politische Witze, die ironisch, zum Teil sarkastisch zuspitzten und die gesellschaftspolitische Wirklichkeit des realen Sozialismus in der DDR verdichteten:

Worum ging es Pieck, Ulbricht und Honecker im politischen Handeln?
Pieck: Um Deutschland,
Ulbricht: Um die DDR,
Honecker: Um Berlin …!

Wie sah die Tagesordnung einer SED-Politbüro-Sitzung aus?
1. Hereintragen des Präsidiums.
2. Einschalten der Herzschrittmacher.
3. Gemeinsames Absingen des Liedes „Wir sind die junge Garde“.

Schienenklau bei der Transsibirischen Eisenbahn
Auf der Transsibirischen Eisenbahn donnert ein Reisezug dahin.

Plötzlich erkennt der Lokomotivführer eine Notlage und betätigt die Bremsen. Was ist geschehen? Man hat die Schienen gestohlen.
Was würde geschehen, wenn Lenin an Bord gewesen wäre?
Er hätte einen Subbotnik organisiert. Die Schienen wären hinter dem Zug abmontiert und vor dem Zug wieder neu verlegt worden. Irgendwann wäre der Zug dann in Wladiwostok angekommen.
Was, wenn Stalin…
Er hätte erst einmal den Lokführer und die Zugbegleiter erschießen lassen. Dann hätte man weiter gesehen.
Was, wenn Erich Honecker…?
Zunächst hätte er die Vorhänge der Waggonfenster zuziehen lassen. Dann wären die Genossen zum Verlassen des Zuges aufgefordert worden, um nach Kräften an den Waggons zu rütteln, damit die im Zug verbliebenen den Eindruck hätten, die Fahrt ginge weiter.

Das materielle Sein, so der Anfang einer weiteren Marx‘schen These, bestimmte auch in der DDR das Bewusstsein seiner Bürger. Die Versorgung der Bevölkerung ist im Herbst 1989 in jedweder Hinsicht auf einem Tiefpunkt angelangt; die D-Mark erlangt den Status einer Zweitwährung und ist objektiv längst zur Leitwährung für die meisten DDR-Bürger geworden; Reisen in den Westen machen den allgegenwärtigen Mangel nur noch fühlbarer.
Im Herbst 1989 trägt die Lage in der DDR zunehmend Merkmale einer revolutionären Situation:
In der Tat will ein Großteil der Herrschenden, in Wirklichkeit aber beherrschten Klassen und Schichten, nicht mehr so leben wie bisher und die Herrschenden ihrerseits – also die selbst erklärte Vorhut der beherrschten Herrschenden – können nicht mehr so regieren wie bisher!
Die Artikulationsformen des Protestes sind vielfältig. Oppositionsgruppen entstehen landesweit. Auffällig ist vor allem der Wandel im Auftreten Andersdenkender: Courage mit Nennung von Ross und Reiter verdrängt nach und nach die Angst vor staatlicher Repression.
Erich Honecker steht krankheitsbedingt zwischen Anfang Juli und Ende September 1989 nicht zur Verfügung – ein Faktum von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wenn man in Rechnung stellt, dass in den kommunistischen- und Arbeiterparteien alles vom Generalsekretär in Person abhing, ohne den keine wichtigen Entscheidungen gefällt werden konnten. Während die DDR schier unaufhaltsam ausblutet, kennzeichnen Realitätsverlust, politische Ratlosigkeit gepaart mit Hilflosigkeit und trotzigem Verhalten das politische Establishment der DDR im Herbst des Jahres 1989.
„Auf welche, wahrscheinlich gewaltsame Lösung sollte man verfallen?
Eine Mauer konnte man nicht mehr bauen, sie gab es ja schon.“
(Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution, S. 65.)
[…] Warum sollte die Partei, die immerhin einen 17. Juni 1953 siegreich überstanden, die einen 13. August 1961 erfolgreich bewerkstelligt hatte – unter Leitung Erich Honeckers –, nicht auch diese Krise bewältigen können? Es ging nicht. Die Ereignisse beschleunigten sich, das Tempo der Entwicklung war zu schnell, von Tag zu Tag packte sie immer mehr Menschen, Orte, ganze Landstriche.“ (Ebd., S. 106.)

Nach dem 7. Oktober in Plauen und nach dem 9. Oktober 1989 in Leipzig gelang es der Partei- und Staatsführung zu keinem Zeitpunkt mehr, in den Besitz der strategischen Initiative zu gelangen. Sie hastete – bar jeglicher Unterstützung durch die UdSSR – der Entwicklung nur noch hilf- und ideenlos hinterher. „Karl Marx hatte auch hier Recht, nur wie so oft nicht im Sinne der staatssozialistischen Exegeten, sondern genau umgekehrt: Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Dagegen war die Parteidiktatur schlussendlich machtlos.“ (Ebd.)

Die Prophezeiung des Jürgen Kuczynski, Klubhaus des Kulturbundes, Plauen, Oberer Graben, 5. Oktober 1989:
Jürgen Kuczynski liest aus seinem Werk „Dialoge mit meinem Urenkel“.
In einem Gespräch, das sich der Lesung anschließt, stellt ein Teilnehmer die Frage nach der Zukunft der DDR angesichts des anhaltenden Fortgangs von immer mehr, vor allem jungen Menschen.
Die notwendigen Reformen, so lautet sinngemäß die Antwort Kuczynskis, müssen aus der SED heraus erfolgen. Wenn sie von außen – aus der Gesellschaft – kommen, werden die Folgen unabsehbar sein.

Flugblatt Jörg Schneider
Flufblatt von Jörg Schneider (Quelle: Vogtlandmuseum Plauen)

Plauen im Herbst 1989

Im September 1989 verfasst der junge Plauener Werkzeugmacher Jörg Schneider einen Aufruf, der am 7. Oktober 1989 Tausende Plauener Bürger dazu veranlassen wird, den „Tunnel“ aufzusuchen.
Am 2. Oktober 1989 demonstrieren in Leipzig nach Friedensgebeten schätzungsweise bis zu 20.000 Menschen auf dem Ring und auf dem Karl-Marx-Platz. Die Demonstration wird gewaltsam aufgelöst.
In derselben Nacht verteilen drei junge Männer in Plauen den von Jörg Schneider verfassten Aufruf zu einer groß angelegten Demonstration auf dem Theaterplatz am 7. Oktober 1989.

Bereits am 3. Oktober 1989 hat sich in den Morgenstunden der Inhalt des Aufrufs wie ein Lauffeuer verbreitet. Fahrgäste in den Straßenbahnen tauschen sich leise aus. Über Mund-zu-Mund-Propaganda ist in kürzester Zeit beinahe jeder Plauener informiert.
Bis Anfang Oktober 1989 sind bereits 1.893 Plauener Bürger in die Bundesrepublik ausgereist. 1.499 Anträge (dies betraf 3.294 Personen) liegen noch vor.
Am 4. Oktober 1989 winken Plauener am Oberen Bahnhof durchfahrenden Zügen mit Botschaftsflüchtlingen zu; dabei kommt es zur Konfrontation mit der Staatsmacht.
Am 5. Oktober 1989 wird eine Friedensandacht in der Markuskirche wegen deren Überfüllung (ca. 1.500 Teilnehmer) zweimal abgehalten.

Damaliger Plauener Superintendent Thomas Küttler am Plauener Rathaus
Damaliger Plauener Superintendent Thomas Küttler am Plauener Rathaus

Am 7. Oktober 1989 drängen zwischen 15.000 und 20.000 Menschen auf Theaterplatz und „Tunnel“, statt der 400, 500 oder auch 1.500 Demonstranten, mit denen die Sicherheitsorgane gerechnet und auf die sie das Aufgebot an Einsatzkräften ausgerichtet haben. Machtdemonstrationen des Staates verfehlen ihre Wirkung und erzeugen stattdessen Empörung und Trotz.
Die vom Staat begonnene Gewaltanwendung lässt innerhalb weniger Augenblicke die Stimmung unter den Massen umschlagen. Mehrfach drängen Demonstranten zum Neuen Rathaus und fluten – von Polizeischlagstöcken getroffen – zurück zum Nonnenturm. Als das Patt offensichtlich wird, nehmen die Demonstranten auf den Ruf eines Unbekannten hin eine Wendung um 180 Grad vor und formieren sich zu einem ersten, spontanen Demonstrationszug. Als die Demonstranten wieder am Neuen Rathaus eintreffen, ruft der damalige Plauener Superintendent Thomas Küttler zum Gewaltverzicht auf. Sein Appell, der mit der Ankündigung „Wir kommen wieder!“ endet, findet bei beiden Seiten Gehör.
Fazit: In Plauen fand die „erste Massendemonstration statt, vor der die Staatsmacht kapitulieren musste.
Das war der Durchbruch.
Zwei Tage vor den Ereignissen am 9. Oktober in Leipzig, die jedoch die Entscheidung brachten.“ (Vgl. Ebd., S. 112)

Tunnel in Plauen am 07.10.1989
Tunnel in Plauen am 07.10.1989
Tunnel in Plauen - Wasserwerfereinsatz am 07.10.1989
Tunnel in Plauen – Wasserwerfereinsatz am 07.10.1989

Plauen zwischen Oktober 1989 und Mai 1990

Zwischen Oktober 1989 und Mai 1990 spielt Plauen weiterhin eine Sonderrolle: Es hat sich nicht nur zeitlich an die Spitze der Bewegung gesetzt, sondern hebt sich für eine Stadt mittlerer Größe mehrfach durch besonders hohe Teilnehmerzahlen an den Samstagsdemonstrationen hervor: 35.000 oder gar 40.000 sind es am 21. Oktober 1989, etwa 30.000 am 28. Oktober. Bereits am 28. Oktober 1989 wird auf der Demonstration ein Transparent mit der Aufschrift „Deutschland einig Vaterland“ getragen – ein Beleg dafür, dass sich das Verlangen nach Reisefreiheit in Plauen sehr früh mit dem Wunsch nach Wiedervereinigung verband.